Dr. Volker Bugdahl: Der Dorfschöneneffekt – zur Prototypensemantik bei Marken

Von Herrn Dr. Volker Bugdahl, Markenagentur „at10tion“/Hanau, erhielt ich folgenden Gastbeitrag, für den ich mich sehr herzlich bedanke:

Der Dorfschöneneffekt – zur Prototypensemantik bei Marken

Ein Prototyp ist ein Urbild, Muster oder Inbegriff, umgangssprachlich das erste, vor der Serienproduktion hergestellte Exemplar einer Maschine. In der Semantik, der Wortbedeutungslehre, kann der Begriff Prototyp zwischen „bester Vertreter“ und „bester Gebrauch eines Wortes“ variieren. Wir steigen hier nicht tief in die Semantik ein, sondern schlagen nur eine Brücke zu den Marken.

Die fundamentale menschliche Fähigkeit der Kategorisierung vollzieht sich auf der Grundlage gemeinsamer Eigenschaften. So nehmen wir einen Gegenstand als Baum wahr, weil er die Charakteristika besitzt, die die Kategorie Baum definieren. Das gilt unabhängig davon, ob wir wissen, was das für ein Baum ist. Wir fragen beispielsweise notwendige und hinreichende Bedingungen ab (Modell NHB), um zuordnen zu können. Das beste Exemplar, der Prototyp, ist selbst kein individuelles Exemplar. Eine Befragung ergab für die Kategorie Obst, sei Apfel das beste Exemplar, aber eben der Prototyp Apfel und kein bestimmter Apfel. In der Befragung rangierten in der Reihenfolge absteigender Repräsentativität nach Apfel: Pflaume, Ananas, Erdbeere, Feige und schließlich Olive. Die Exemplare einer Kategorie sind nicht äquivalent, sondern werden nach einer typischen Eigenschaft bestimmt. Der Prototyp eines Vogels ist hierzulande ein Exemplar etwa wie ein Rotkehlchen, ein Spatz oder ein Kanarienvogel, aber kaum eine Ente, eine Eule, ein Pfau, ein Strauß oder ein Pinguin. Wir verfügen über gespeicherte Prototypen auf verschiedenen Begriffsebenen. Bitten wir jemand um eine spontane Antwort auf Farbe, Werkzeug, Musikinstrument und Blume, so werden wir meist Rot, Hammer, Geige, Rose hören. Fragen wir nun nach einer (proto)typischen Rose, sind die Antworten schon weniger gleichförmig oder bleiben aus Mangel an Detailkenntnissen ganz aus. Auf jeden Fall ist es eine rote Rose, keine gelbe, weiße oder gar schwarze.
Wenn man nach „Pflanzen“ im Wald fragt, wird vermutlich mit „Bäume“ geantwortet, obwohl Farne, Pilze, Eiche, Buche, Fichte usw. auch richtig wären. Wenn wir einen Pudel auf einer Wiese laufen sehen, werden wir das Gesehene als „Dort läuft ein Hund“ beschreiben, obwohl auch Lebewesen, Säugetier, Vierbeiner oder Pudel korrekt wären. Es gibt also offensichtlich eine Hierarchie der Prototypen und eine bevorzugte Ebene. Ein sehr vereinfachtes Modell stellt die Einteilung in nur drei Ebenen dar:

Übergeordnete Ebene Pflanze Tier Obst Getränk
Basisebene Baum Hund Apfel Kaffee
Untergeordnete Ebene Eiche Pudel Boskopp Espresso


Die Prototypen der Basisebene repräsentieren Beispiele der natürlichen Umgebung, auf die man sich am häufigsten bezieht. Sie sind in psychologischer Hinsicht am hervorstechendsten, und sie gehören zu den ersten Ausdrücken, die in der Kindheit gelernt werden. Die Basisebene ist in kognitiver Hinsicht an ökonomischten. Wenn wir Tier, Hund und Pudel im Hinblick auf den Informationsgehalt vergleichen, so ist unbestreitbar der größte Teil der Kenntnisse in Hund gespeichert. Tier beschränkt sich auf einige allgemeine Merkmale, und Pudel unterscheidet sich von Hund nur durch wenige zusätzliche Merkmale. In der Basisebene haben die Kategorien die höchste Informationsdichte und unterscheiden sich damit am stärksten. Wir verlassen die Basisebene nur begründet, z.B. in Richtung der untergeordneten Ebene, wenn wir von zwei verschiedenen Hunden berichten. Wir können einen typischen Hund oder Baum (Basisebene) zeichnen, ebenso wie einen Pudel oder eine Eiche (untergeordnete Ebene) zeichnen, aber es ist unmöglich, ein Tier oder eine Pflanze zu zeichnen, ohne ein Exemplar der Basisebene oder der untergeordneten Ebene darzustellen, denn die übergeordneten Kategorien umfassen so verschiedenartige Exemplare, daß eine Repräsentation durch eine einzige Form nicht möglich ist.
Nun zu den Marken. Welche Markennamen fallen Ihnen spontan zu den Produkten Aktenordner, Alleskleber, Einmachglas, Hautcreme, Taschenschirm, Taschentuch ein? Vermutlich werden Sie Leitz, Uhu, Weck, Nivea, Knirps, Tempo antworten. Diese erste, spontane Nennung ist der von Markeninhabern so sehnlich erwünschte First call. First call bezeichnet meist den Marktführer. Neue Dinge brauchen neue Namen, und wenn der Markename paßt, wird er angenommen. Wenn der Markenname nicht mehr als Eigenname eines Produkts von einem ganz bestimmten Hersteller verstanden wird, verselbständigt er sich und wird zum Gattungsbegriff, was den Markenschtz kosten kann. Die Karriere zum First Call führt über die Prototyp-Stufe. Der Verbraucher honoriert den Ersten auf dem Markt, dessen gelungenen Namen für das gute Produkt. Wenn ähnliche Produkte nachrücken, bleiben Produkt und Name „bestes Exemplar einer Kategorie“ und „bester Gebrauch eines Wortes“.
Neue Produkte müssen einen Zusatznutzen wie Neuheit, Originalität, Lösung eines latenten Problems, snob value, Nostalgie bieten. Schließlich können auch der „Dorfschönen“-Effekt, der Markenverbund und die Pflege einer Marke zur Bekanntheit führen. Als es weder Auto noch TV oder Radio gab, lebten die Menschen in abgelegenen Dörfern sehr isoliert. So ist vorstellbar, daß eine „Dorfschöne“ für das schönste Mädchen überhaupt gelten konnte – weil es wirklich ganz besonders schön war und weil man sich kein noch schöneres vorstellen konnten. Das einmal gefällte Urteil ist, wenn es nicht bald nach seiner Installation ins Wanken gebracht wird, ziemlich stabil. Da kann ruhig die Kunde von einer anderen fernen Schönen ins Dorf gelangen („Wer weiß, ob sie wirklich so schön ist?“). Ja es kann sogar eine fremde Schöne ins Dorf einheiraten. Da sie anders schön sein wird als die Titelverteidigerin, bleibt der Ruf der Schönen mit älterer Priorität unangefochten. Die Definition für Schönheit basiert nämlich (nicht ursprünglich, aber durch Gewöhnung) auf der speziellen Schönheit der etablierten Dorf-Venus. Übertragen auf Marken heißt das, daß augenöffnende Innovation honoriert wird. Dankbarkeit gegenüber einer Verbesserung, Gewöhnung und Beharrungsvermögen verhelfen dem Ersten zu einem schwer einholbaren Vorsprung, wenn Produkt und Markenname stimmen. Wenn ein billigerer oder sogar billigerer und besserer Nachahmer nicht allzuschnell nachstößt, wird das Publikum dem Ersten noch lange und sogar ungerechtfertigt die größere Kompetenz zubilligen. Daraus lernen wir – auch für die Marken – Es ist (mitunter) besser, Erster zu sein, als besser.
Für ein unspezifisches Hundefutter, das in großer Menge verkauft werden soll, sollten wir also die Basisebene Hund für eine Marke wählen. Ist unsere Zielgruppe der in einer Wohnung gehaltene Kleinsthund oder aber der diensttuende große Wachhund, so müssen wir spezieller werden.
Die bekannte Wort-Bild-Marke von Nestle erklärt mit einem Bild das Wort Nestle = kleines Nest. Damit man das Nest auch sicher erkennt, wird es mit Vögeln gezeigt. Und weil es kein spezielles, sondern ein prototypisches Nest zeigen soll, müssen prototypische Vögel darin sitzen.
Bei Kosmetik wird im Falle breitester Anwendung ein Prototyp der übergeordneten Ebene zu wählen sein, damit sich keine Abnehmergruppe ausgeschlossen fühlt. Bei Damenkosmetik gilt analog, daß als Beispiel möglichst kein bestimmter oder höchstens ein exotischer Frauentyp auftauchen darf, damit eine persönliche Identifikation möglich bleibt. Auch ein Ausweichen von den Kategorien Frauen und Männer auf die Kategorien Kinder oder Babys ist möglich, weil dann im Rückschluß wieder eine Anwendung für Erwachsene abzuleiten ist. In der Modewerbung fallen neuerdings exotische Mannequins auf. Damit soll der europäischen Kundin Gelegenheit gegeben werden, sich selbst in dieser Kleidung vorzustellen. Die exotischen Gesichter sind für uns schwer einprägbar und unterscheidbar. Sie wirken anonym trotz aller Porträtgenauigkeit und Anmut.
Bei einer guten Marke sollte der Begriff genau zum Objekt passen oder absichtlich ganz schlecht. Um auf einen flüchtigen Blick hin prägend und einprägsam wirken zu können, muß der Markenname wie selbstverständlich der einzige richtige Schlüssel zum Schloß sein, oder aber auffällig etwas unerwartet anderes. Prototyp oder nicht, das ist oft die Frage.

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